Deutschland 1945

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Für uns Nachgeborene lassen sich die katastrophalen und chaotischen Verhältnisse bei Kriegsende kaum noch nachvollziehen. Deutschland war im Jahr 1945 ein Land von Menschen, die unterwegs waren. Wir kennen aus den Familienüberlieferungen oft noch die Ereignisse auf der Flucht aus dem Osten, auf der Suche nach einer neuen Heimat. Aber es waren noch sehr viel mehr Menschen, die mehr oder minder orientierungslos umherirrten.
Wegen des Luftkrieges gab es viele Kinder und Jugendliche, die zur Kinderlandverschickung in sicherere Gebiete evakuiert wurden, insgesamt mehr als eine Million, die nun wieder Kontakt zu ihren Eltern aufzunehmen versuchten, sowie zahllose Kriegswaisen, für die neue Betreuungsmöglichkeiten gesucht werden mussten. Vor allem in den Großstädten gab es hunderttausende ausgebombter Familien, die – sofern sie nicht in Ruinen eine notdürftige Unterkunft errichten konnten – sich nach einer neuen Bleibe umschauen mussten. Auf den großteils zerstörten Straßen waren außerdem frei gewordene Zwangsarbeiter unterwegs, sowie befreite KZ-Insassen auf dem Weg in ihr früheres Zuhause. Hingegen war Kollaborateuren aus der Sowjetunion der Weg in die Heimat versperrt, sie wären schwerstens bestraft worden. Bevorzugt nutzten die noch verbliebenen Straßen die alliierten Soldaten auf ihren Wegen in die zugeteilten Besatzungszonen und für die Versorgung ihrer Truppen und ihrer neuen Militärverwaltung. Deutsche Kriegsgefangene wurden in Internierungslager gebracht. Entlassene Soldaten aus der Gefangenschaft machten sich auf den Marsch nach Hause, aber auch arbeitslose Rüstungsarbeiter, die eine neue Beschäftigungsmöglichkeit suchten. In diese Ströme von Menschen reihten sich zusätzlich NS-Funktionäre und Verbrecher auf der Flucht ein, die irgendwo ein neues Leben mit fremder Identität aufbauen wollten. Auswanderungswillige bemühten sich um eine Chance zur Emigration, auch wenn dies direkt nach Kriegsende kaum möglich war. Und zwischen all diesen Menschenmassen bewegten sich die vielen Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen, darunter die vergleichsweise kleine Anzahl von Bessarabien- und Dobrudschadeutschen, denen der Weg zurück in ihre alte Heimat von 1940 ja unmöglich war. Bei all diesem chaotischem Durcheinander muss man sich noch vor Augen halten, dass es zunächst ja kaum eine staatliche Organisation gab. Die Kommunalverwaltungen mussten unter alliierter Kontrolle erst mit politisch Unbelasteten wieder neu besetzt werden.
In dieser Situation wurde im Sommer 1945 in Stuttgart das „Hilfswerk Rüb“ gegründet, die erste deutsche Flüchtlingsorganisation überhaupt. Sie wurde Anlaufstation tausender Bessarabien- und Dobrudschadeutschen, doch ihre Aufgaben wurden bald ungeheuer umfangreich und kaum noch zu bewältigen.
Es musste eine Stelle für den Publikumsverkehr, zur Auskunft und Beratung der ankommenden Menschen eingerichtet werden und eine umfangreiche Aufklärungsarbeit – übrigens auch für die einheimische Bevölkerung geleistet werden. Eine der drängendsten Aufgaben war der Aufbau eines Suchdienstes und die Erfassung aller Ankommenden durch Fragebogen, schließlich waren die Landsleute zunächst über ganz Deutschland verstreut. Für die Vielen, die den Weg wieder in die alte „Urheimat“ ihrer Vorfahren suchten, musste man Zuzugsgenehmigungen in die amerikanische Besatzungszone bekommen, nur dann erhielt man Lebensmittelkarten, Kleiderkarten und Wohnraum – so gut dies eben möglich war. Die Ansiedlung erfolgte zunächst in Übergangslagern, später allerdings auch durch Zwangseinweisungen in Häusern der Einheimischen. Dafür waren aber Gespräche und Besuche bei Politikern, Bürgermeistern, Landräten und kirchlichen Dienststellen nötig – und dies erforderte Dienstfahrten durch ganz Württemberg mittels der nach dem Krieg noch vorhandenen Fahrtmöglichkeiten. Für die nun zahlreich ankommenden Flüchtlingen wurde eine Verteilstelle für Kleider, Schuhe und Wohnungseinrichtung eröffnet, sowie eine Frauennähstube, ja sogar eine Färberei. Für die Handwerker versuchte man Material und Werkzeuge zu beschaffen. Vielleicht noch wichtiger war die Hilfe beim Beschaffen von Papieren, der Anerkennung von Prüfungsleistungen und Berufsabschlüssen, da ja viele Unterlagen im Krieg verloren gegangen waren. Die Stadt Stuttgart war zunächst dankbar für die Vermittlung von Arbeitskräften, die zerstörte Innenstadt musste ja wieder vom Schutt befreit werden. Dazu kamen Aufgaben, an die wir heute kaum denken. Viele Flüchtlinge kamen mit Pferdegespannen nach Stuttgart. Wo stellt man die Pferde unter? Wie beschafft man das erforderliche Heu? Und dazu kam der unvermeidliche Schriftverkehr in der Zentrale des Hilfswerkes, die Buchhaltung, das Bank- und Versicherungswesen.
Die Generation vor uns hat diese übermenschlichen Aufgaben bewältigt – fast ohne Hilfe von außen. Heute können wir diese Leistung nur bewundern und auch dankbar dafür sein.