„Darf’s ein bisschen Heimat sein?“

Tobias Weger
Bericht zum 9. Dobrudscha-Seminar vom 20. bis 23. März 2025 in Raststatt
Dieses Werbeschild (eines Metzgers!) fiel beim Stadtrundgang in Rastatt ins Auge, denn seine Botschaft verwies indirekt auf das Thema des inzwischen neunten Dobrudscha-Seminars. Das erste fand 2016 im Haus am Maiberg in Heppenheim statt, das achte 2024 im Roncalli-Haus in Magdeburg. Erneut luden die Akademie des Bistums Mainz in Kooperation mit dem Bessarabiendeutschen Verein und der Kulturreferentin für u. a. Siebenbürgen, den Karpatenraum, Bessarabien und die Dobrudscha ins Bildungshaus Sankt Bernhard in Rastatt ein. 25 Personen folgten der Einladung – ergänzt durch neun (!) Referent*innen, darunter auch zum ersten Mal vier aus Rumänien. Ziel war es somit auch, die Vernetzung derer, die in Rumänien am Thema Dobrudscha arbeiten, mit dem Verein zu intensivieren: die Dozentinnen Maria Muscan und Cecilia Vârlan von der Ovidius-Universität in Constanta, Andreea Wisosenschi aus Bukarest/Karamurat sowie der Journalist und Autor Daniel Banner aus Bukarest besuchten vor dem Seminar im Bessarbiendeutschen Haus in Stuttgart nicht nur die neu gestaltete Ausstellung, sondern führten mit den Verantwortlichen, u. a. der Vorsitzenden Brigitte Bornemann und dem Geschäftsführer Hartmut Knopp, konstruktive Gespräche – nicht zuletzt über eine weitere Zusammenarbeit. Einige Verbindungen hatte hier die Kulturreferentin Heinke Fabritius knüpfen können. (Siehe MB Mai 2025 S. 5)
„Darf’s ein bisschen Heimat sein?“ Die wenigsten Teilnehmer*innen kamen aus der Gegend um Raststatt, aber nur einige Kilometer weiter über den Rhein ging die Exkursion am Freitagmorgen – traditionell erfolgte die Anreise ins Tagungshaus St. Bernhard in Rastatt bereits am Donnerstag mit einem ersten informellen Abend und Vortrag über das Leben des Pfarrers Hieronymus Menges aus Karamurat – in den Nordelsass, wo einige „ein bisschen Heimat“ verspürten. Denn von hier kamen z. T. ihre Vorfahren und waren von hier vor über 200 Jahren ins südrussländische Reich ausgewandert. Die Auswanderungen, u.a. aus den Regionen Elsass und Lothringen sowie dem Südwesten Deutschlands ab 1805, bildeten den thematischen Hintergrund des Seminares – und manche Teilnehmer*innen bestätigten, dass sie vor Ort „ein bisschen mehr Heimat“ verspürten. Gemeinsam mit einer elsässischen Lehrerin im Ruhestand, die sich aber sehr gut in der Auswanderungsgeschichte des (nördlichen) Elsass und den einschlägigen französischen Archiven auskannte, besuchte die Gruppe auf dem Weg nach Weißenburg/Wissembourg einige der Auswanderungsorte; bekannt ist in diesem Zusammenhang, dass die Baumstarks ihre Wurzeln in Neeweiler, die Ehrets in Salmbach, die Hoffarts in Aschbach, die Macks in Schleythal und die Kleins in Oberkrumbach hatten.
Nach dieser Exkursion in die alte Heimat der Auswander*innen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Spurensuche der jeweiligen (Familien-) Geschichte – besonders mit Blick auf die Motive der Auswanderungen nach 1805 und die Wege bis zur Ankunft in der „neuen“ Heimat – im Seminar fortgesetzt. Das jährliche „Dobrudscha-Seminar“ versteht sich auch als Vernetzungs- bzw. Kommunikationsknoten für diejenigen, die an für die Dobrudscha relevanten Themen (wissenschaftlich) forschen und arbeiten. Die bewährten Referenten Tobias Weger vom IKGS in München und Josef Sallanz von der Hochschule in Chisinau/Moldau hatten sich am ersten Abend die Motive der Auswanderung aufgeteilt.
Hier spielte v.a. die Furcht eine Rolle, von Napoleon in das französische Revolutionsheer (zwangs)eingezogen zu werden und dann in den Krieg ziehen zu müssen. Hier wurde auch die Parallele zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine deutlich, denn auch hier sind v. a. junge Männer (nach Georgien oder in den Westen) geflohen, um der Rekrutierung für den Krieg zu entgehen. Interessanterweise führten diese ersten (nächtlichen) Fluchten bereits ab 1805 genau dorthin, wo die Gruppe tags zuvor – in gegengesetzter Richtung – bei Plittersdorf auf der badischen Seite mit der Fähre den Rhein überquert hatte.
Ergänzt wurden die beiden Referenten durch Hartmut Knopp, der von früheren Veranstaltungen eine Präsentation vom Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambori 1815 in petto hatte. Die wenigsten Teilnehmer*innen hatten von diesem dramatischen Ereignis gehört. Dieser größte Ausbruch in der jüngeren Geschichte führt 1816 zu einem „Sommer ohne Sonne“, der nach den napoleonischen Kriegen und der Verwüstung weiter Landstriche in Europa zu zusätzlichen Hungersnöten führte und die Menschen, v. a. Bauern, Richtung südrussischem Reich auswandern ließ. Hier spielte parallel das offensive Werben von Zar Alexander genauso eine wichtige Rolle – er wollte das von ihm eroberte Land kolonisieren und fruchtbar machen – wie die Erlaubnis der Herrscher, die der verarmten Bevölkerung beim (damaligen) alemannischen Erbrecht nicht mehr helfen konnten.
„Darf es die neue Heimat sein?“ Der Weg dahin war lang und nicht ungefährlich, wie am Samstagmorgen deutlich wurde. Die oft mehrere Monate lange Auswanderung – zu Fuß oder per „Ulmer Schachtel“ über die Donau (und später wieder zu Fuß) – in die neue südrussländische Heimat Bessarabien, was heute ungefähr dem Gebiet der Republik Moldau bzw. Transnistriens entspricht, war abenteuerreich und gefährlich. Oft war der Start in Ulm, weshalb einige Teilnehmer*innen am Ende des Seminars dafür plädierten, diese Donaustadt als einen der nächsten Seminarorte in den Blick zu nehmen.
Besonders beindruckten die Gruppe einige Briefe in die alte Heimat, in denen der Auswanderer Johann Christoph Bidlingmaier von Oetlingen die Schwierigkeiten der Auswanderung schilderte: Gefahren auf Reisen (zu Wasser und zu Land), Wetter mit großer Hitze (Juli 1817), Begegnung mit neuen Kulturen und unbekannten Sprachen. Ergänzend wurde hier deutlich, dass wohl auch – in diesem Falle – religiöse Motive die Auswanderung bestimmt hatten; protestantische Gruppen wie z. B. die Baptisten waren nicht selten verfolgt und hofften auf eine neue Heimat, wo der Glaube frei gelebt werden konnte.
„Darf es ein bisschen mehr Heimat sein?“ Diese Frage zog sich wie ein roter Faden durch den Vortrag von Heinke Fabritius. Denn für die Frage, wie nicht nur die Auswanderungsgeschichte sondern überhaupt die Geschichte der Dobrudschadeutschen museal in Rumänien und Deutschland repräsentiert ist, fiel das Fazit doch sehr eindeutig bzw. dürftig aus: Das Thema Migration nach Bessarbien bzw. in die Dobrudscha findet in den einschlägigen Museen kaum bis gar keine Resonanz – genauso wenig wie die ca. 100 Jahre dauernde Anwesenheit der Dobrudschadeutschen. Das Seminar war zwar schnell derselben Meinung, dass nämlich dieser Zustand verändert werden und „ein bisschen mehr Heimat“ unbedingt repräsentiert werden müsse; aber wie das möglich werden könnte bzw. welches (strategische) Vorgehen sinnvoll wäre, da gingen die Meinungen doch auseinander. Eine Idee war z.B., den Museen wie dem Ethnografischen Museum in Tulcea, wo die 100-jährige Dobrudschadeutsche Geschichte überhaupt nicht thematisiert wird, Materialien als ein „Geschenk“ zur Verfügung zu stellen, das nicht abgelehnt werden könne, um neben der Darstellung der anderen Ethnien der Dobrudscha auch die Geschichte der Dobrudschadeutschen zu zeigen. Hier könnten die Referentinnen aus Constanta bzw. Karamurat zukünftig eine wichtige Vermittlerrolle übernehmen.
Dass sie sich engagiert mit dem Thema Dobrudscha in verschiedenen Facetten auseinandersetzen, wurde ab dem Samstagnachmittag deutlich. Die Darstellung über die Geschichte der ethnischen Gruppe der Aromunen (oder auch Mazedonier) machte deutlich, dass diejenigen, die z.B. in Karamurat 1940 nach der Aussiedlung die Häuser der Deutschen zugewiesen bekamen, selber eine bewegte Migrationsgeschichte hatten. Andreea Wisosenschi, die im Übrigen auch als Kuratorin einer Ausstellung über das Leben der Deutschen in Karamurat bis 1940 im September 2024 fungierte, vereint beide Ethnien, da ihre Mutter Aromunin war und der Vater deutsche Vorfahren hatte. Auch diese historischen Zusammenhänge waren für die meisten Seminar-Teilnehmer*innen neu.
Die rumänischen Dozentinnen zeigten am Samstag und Sonntag noch ergänzend auf, an welchen dobrudschadeutschen Themen sie arbeiten: Zum einen an der „dobrudschadeutschen Literatur“, über deren Vorhandensein ebenfalls kontrovers diskutiert wurde; zum anderen wurde im abschließenden Referat am Sonntagmorgen zur „Erinnerung und Identität im Spiegel der dobrudschadeutschen Literatur“ deutlich, dass hier noch viel Forschungsarbeit zu leisten ist. Man darf gespannt sein, welche Ergebnisse hier in den nächsten Jahren präsentiert werden können.
Auf jeden Fall wurden erste mögliche Synergieeffekte erkannt, denn es wurde offensichtlich, dass im September 2025 gleich drei Reisen bzw. Projekte in der Dobrudscha geplant sind, die zeitlich parallel laufen: der Verein, die Ovidius-Universität und auch Professor Hans-Christian Maner, der den Arbeitsbereich osteuropäische Geschichte in der Johannes Gutenberg Universität in Mainz vertritt, planen jeweils ein Vorhaben. Erste Verabredungen wurden getroffen und eine Perspektive für eine erweiterte Zusammenarbeit ist erfreulicherweise für 2025/26 im Blick.
Aber auch die Teilnehmer*innen wollen sich weiter engagieren, zumal sie sehr zufrieden waren: Das „Lernklima" wurde auf einer Skala von 1,00 (= sehr zufrieden) bis 5,00 (sehr unzufrieden) als ausgesprochen gut bewertet (1,22). Die Zufriedenheit des Veranstalters stand dem in nichts nach, denn die anderen Bewertungen waren ebenfalls ausgesprochen positiv: Der Wissensstand wurde erweitert (1,09), das Thema Migration könne man nun differenzierter beurteilen (1,19) und man fühle sich motiviert, sich weiter mit dem Thema dobrudschadeutsche Geschichte zu beschäftigen (1,19). Folglich bekundeten alle Teilnehmer*innen ihr Interesse an einer Fortsetzung der Seminarreihe in 2026, die nach aktuellem Stand für das Wochenende nach Ostern im April 2026 im Bildungshaus St. Ursula in Erfurt stattfinden wird – zumal sich auch ein anschlussfähiges Thema ergab: Die Zeit zwischen Ankunft im südrussischen Reich zwischen 1805/10 und der Gründung der ersten Kolonien in der osmanischen Dobrudscha ab ca. 1840. Mit dieser thematischen Auseinandersetzung wäre dann der „Kreis“ im zehnten Seminar geschlossen, denn bei den ersten Seminaren 2016 und 2017 ging es auch um die Anfänge bzw. das Leben am Schwarzen Meer ab 1840.
Damit wäre die rhetorische Frage, ob es „ein bisschen mehr Heimat“ sein könne doch eindeutig beantwortet: Es darf „ein bisschen viel mehr Heimat“ und die Auseinandersetzung damit sein, denn aus der Erinnerung erwächst bekanntlich in der Gegenwart die Zukunft. Man darf gespannt sein!